Von Thymian und freundlichen Menschen
So spät im Jahr waren wir noch nie hier, aber was soll’s? Auch mal schön, ohne die Mengen an anderen Touristen. Jetzt hört man nur vereinzelt auf den Märkten mal Deutsch oder Englisch. Frankreich hat auch Ferien. Und freundlich sind sie, die Franzosen, ausnahmslos. Très gentil. Herzlich, die Wesensart der Provencalen ohnehin. Wie es bei uns auf dem Dorf üblich ist, wird man des Öfteren auf der Straße mit einem freundlichen „Bonjour“ gegrüßt, und zwar von Kindern wie von Erwachsenen.
Die Freundschaft im europäischen Sinne ist wohl am stärksten zwischen unseren beiden Ländern entwickelt. Der „Sprachdünkel“ macht sich nicht mehr bemerkbar, schon länger nicht. Geht es auf Französisch nicht weiter, greift der moderne Franzose auch gerne auf sein Englisch zurück, und das sogar auf dem Lande. Die freundliche Marktfrau mit ihren Backpflaumen, dem Pflaumensaft und zweierlei Pflaumenmus kramte sogar ihr Deutsch hervor.
Trotz der großen Supermärkte (Auchan und Super U), die sich in den letzten acht Jahren weiter ausgebreitet haben, gibt es sie immer noch, die reinen Gemüse- und Obstgeschäfte, die Fleischereien „artisans“ und massenweise kettenfreie selbstbewusste Bäcker, die alle genügend Kunden zu haben scheinen. Schließlich lässt sich in Frankreich eine Mahlzeit ohne Baguette immer noch nicht denken. Also: dreimal täglich Brot holen. Jeden Tag überrascht der eine der drei oder vier Bäcker in Coustellet seine Kundschaft mit einer neuen Spezialität, die dann am nächsten Morgen bereits einer weiteren Platz machen muss. Dachziegelgebäck, hauchdünn gebogen, aus Mandeln, Mini Mérengues, feinste Baisers, die auf der Zunge zergehen. Und tatsächlich Chouettes, kleine Windbeutel mit Hagelzucker, wie sie die Tante der Protagonistin in „Die Sehnsucht des Vorlesers“ liebt (gerade gelesen!) Gerne darf man auch nur ein oder zwei Stückchen zum Probieren mitnehmen. Die Bäckerin gegenüber schenkt mir ein großes Stück Olivenbrot: „C’est un cadeau!“, prononciert sie. Überhaupt sind sie gut zu verstehen, die Provenzalen. Beim Gemüsehändler nebenan gibt es außer pflanzlichen landwirtschaftlichen Produkten nur Eier, und Erfrischungsgetränke, letztere mögen dem Durchgangsverkehr geschuldet sein. Ich erstehe vier Steinpilze – wie gemalt- „Von heute Morgen“, wie mir die Verkäuferin versichert. mit einer Charlotte, einer Tomate herrlichen Aromas und zwei Bioeiern ein leichtes Abendessen erster Klasse, das nur noch mit ein wenig Baguette Ficelle und Ziegenkäsevariationen aus dem Luberon abgerundet wird.
Gestern blies noch ein eisiger Wind heftig von den Vauclusen herbab. „C’est notre mistral!“, wird mein Frösteln achselzuckend kommentiert oder sogar: „Da, wo ihr herkommt, müsst ihr das doch gewöhnt sein.“ Ja, schon, aber es ist mein erster Mistral! Abends hat er sich schon gelegt und die Luft ist milde geworden. Oben auf dem Berg von Lacoste werden die Ruinen des Schosses vom Marquis de Sade den ganzen Tag rundum von der Sonne beschienen. Es ist warm geworden und der Blick ist atemberaubend. Fern im Norden leuchtet der Mont Ventoux und das große Vaucluseareal leuchtet in satten Herbstfarben von weinrot über grün bis gold. Bonnieux auf dem Hang gegenüber liegt schon im Schatten, zeichnet sich aber durch das helle Gestein seiner Häuser gut ab. Wein und Lavendel, Eichen und Pinien, leuchtende Pappeln und kleine Olivenhaine, aparte Zedern und an den Auffahrten zu den Gehöften schlanke Zypressenalleen. In den Ortschaften Platanen. Zwischen den Feldern schützen dichte Reihen von Nadelbäumen vor dem Bergwind, der jetzt wie weggeblasen erscheint.
Am nächsten Tag lösen sommerliche zwanzig Grad die herbstliche Morgenfrische ab und wir fahren mit offenem Verdeck. Thymian und riesige Rosmarinbüsche entfalten in der Wärme wieder ihr Aroma. Auch die Nase erinnert sich. Alte Wege, neue Wege. Auch beim neunten Besuch seit 1964 gibt es noch so vieles zu beobachten. Mal abgesehen von dem wahnsinnig erhöhten Verkehrsaufkommen, aber das ist bei uns schließlich nicht anders. Zum Beispiel auch die Aufgeschlossenheit der Kommunen gegenüber der zeitgenössischen Kunst, sprich Plastik. Und nach den Betonbausünden aus den Siebzigern scheint man wieder mehr auf die traditionellen Materialien Naturstein und rote Dachziegel zurückgekommen zu sein. Jedenfalls auf dem Lande. Die alte Bausubstanz überwiegt in den kleinen Städtchen der Vaucluse. Auf jedem der nicht wenigen Baumateriallager sieht man zuerst die hohen Säulen oder Pfosten aus Sandstein, die ehrwürdig die eisernen Gartentore jedes halbwegs respektablen Wohnhauses halten, egal, ob sich dahinter ein winziger staubiger Stadtvorgarten befindet oder die zypressenbestückte Auffahrt zu einem ansehnlichen Landhaus, einem Weingut oder Bauernhof. Früher gab es mehr leerstehende verfallene kleine Häuser. Als Kind träumte ich davon, solch eines mal zu besitzen. Jetzt sind sie fast alle weg. Und von den Unwägbarkeiten, die eine Ansiedlung in der Provence mit sich bringt, hat uns Peter Mayle ja weidlich gesungen. Und als Ferienhaus, nein, das wäre dann wie mit einem Segelboot: Man muss immer hin, hat viel Arbeit und sorgt sich, was in der eigenen Abwesenheit wohl passieren mag. Also lieber spontan die Auszeiten im Süden nehmen, ungebunden und sorgenfrei wie Gott in Frankreich. Eigentlich noch viel besser als der Gegenpapst damals in seinem monströsen Palast in Avignon.
Andrea Claussen