Um es vorwegzunehmen: Nein. Evolutionäre Entwicklung passiert nicht innerhalb weniger Generationen, das dauert tausende von Jahren. Prägend für den Menschen waren seine Überlebensinstinkte, die keinen rationalen Entscheidungen unterworfen sind.
Dafür ist in Gefahrensituationen keine Zeit. Auch wenn wir glauben, dass wir dem Neandertaler haushoch überlegen seien, reagieren wir immer noch mit den gleichen Instinkten. Wenn wir auf einen fremden Menschen treffen, entscheiden wir in Bruchteilen von Sekunden, ob es sich um einen Freund oder Feind handelt, ob wir ihn mögen oder nicht.
Wir untersuchen nicht, ob unsere Entscheidung rational richtig ist, wir legen keine logischen Maßstäbe an, wägen nicht ab. Unser Gehirn ist trainiert, um im Dschungel der Natur zu überleben, für den Großstadt-Dschungel ist es nicht geeignet. Das ist unser Problem.
Erst wenn unsere Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Fortpflanzung) gewährleistet sind, gehen wir den nächsten Schritt und versuchen diese Grundbedürfnisse zu sichern. Dabei spielen Rituale und Regeln eine große Rolle. Religionen und wissenschaftliche Weltbilder prägen das Verhalten. Alles Fremde und Unbekannte wird abgelehnt, es wird nach Beschützern und Führern gesucht. Es wird nicht nach Wahrheit gesucht, eine zufriedenstellende Erklärung ist ausreichend. Und Besitzstandswahrung.
Dann erst folgen soziale Bedürfnisse, Freunde, Anerkennung in der Gruppe und eine eigene Rolle in diesem sozialen Gefüge. Das alles hat mit Rationalität nichts zu tun, es geht darum, sich wohlzufühlen. Gefühle und gefühlte Wirklichkeiten sind vorrangig, unabhängig von tatsächlichen Gegebenheiten. Unserem Gehirn ist die Wahrheit egal. Vermeintliche Ungerechtigkeit ist der Einstiegspunkt der Populisten.
Wenn auf der Welt ganze Völker ausgeplündert werden und dabei auf der Strecke bleiben, wenn Kriege den millionenfachen Tod bringen und 800 Millionen Menschen an Hunger leiden, wenn alle drei Sekunden ein Mensch auf der Welt den Hungertod stirbt, ist dem Menschen in Europa sein Flachbildfernseher immer noch wichtiger. Und nicht nur das, er will mehr. Andere besitzen so viel mehr, unanständig viel mehr. Richtig ist, dass wir, die wir auf einem Eiland der Glückseligen leben, in unserem abgeschotteten Schlaraffenland mit durchaus realen sozialen Schieflagen leben. Das neue, allerdings immer wieder bemühte Schlagwort, ist Gerechtigkeit. Eine Gerechtigkeit, die verlangt, dass z.B. Kriegsflüchtlinge nicht die gleiche Unterstützung bekommen dürfen wie einheimische Fürsorgeempfänger, auch wenn denen dadurch nicht weniger zukäme. Gefühlt könnte einem in Zukunft etwas weggenommen werden. Gefühlt sorgen die Flüchtlinge dafür, dass die eigenen Sozialleistungen nicht steigen. Der Mensch bangt um seine Wohlfühlmomente und Besitzstände. Global gesehen ist das Unsinn, aber es geht nicht um Logik.
Wir befinden uns in der Zeit der vierten industriellen Revolution.
Nummer 1: ca. 1800 Massenproduktion durch Maschinen mit Wasser- und Dampfkraft. Eisenbahn, Kohleabbau und Schwerindustrie entstanden.
Nummer 2: Ende des 19. Jahrhunderts die Einführung der Fließbandarbeit. Imperialismus und Kolonialismus sorgten verstärkt für Rohstoffnachschub und Absatzmärkte. Schiffe und später auch Flugzeuge konnten erzeugte Produkte über Kontinente verteilen. Produkte, die in hoher Stückzahl automatisiert hergestellt worden waren, von Rohstoffen über Autos bis zu Lebensmitteln. Die Ausbeutung der Dritte-Welt-Länder nahm ihren Anfang.
Nummer 3: In den 1970er Jahren begannen Computer die technischen Abläufe zu steuern. Menschliche Arbeit verlor mehr und mehr an Bedeutung.
Nummer 4: Ende des 20. Jahrhunderts entstand ein neuer Industriezweig, der persönliche Computer eroberte die heimischen Wohnzimmer, Produktionsverfahren wurden immer weiter digitalisiert. Aus dem weltweiten Handel ist die digitale Steuerung nicht mehr wegzudenken. Das Geldwesen hat sich total gewandelt, reales Geld spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Heute werden täglich Milliarden im digitalen Gestrüpp verschoben. Milliarden, die real überhaupt nicht existieren. Würden heute alle Menschen das Geld von ihren Konten abheben wollen, würde man feststellen, so viel Geld existiert überhaupt nicht. Es ist ein Konstrukt aus Bits und Bytes. Brächen die digitalen Systeme zusammen, versänke der gesamte Welthandel im Chaos. Banken und Großkonzerne stünden vor dem Scherbenhaufen ihrer Gier.
Unsere Irrationalität hat Vor- und Nachteile. Ohne sie hätten würden wir wahrscheinlich immer noch auf den Bäumen hocken. Rein logisch betrachtet, ist es völlig egal, ob die Erde nun rund ist oder eine Scheibe. Aber die gewonnene Zeit durch die größere Sicherheit hat dazu geführt, dass wir jetzt mit unserer überflüssigen Zeit etwas anfangen mussten, unser Gehirn hatte auf einmal Zeit, sich mit Illusionen und Ideen zu beschäftigen. Das hat uns jetzt in diese Richtung gelenkt, das hat weniger als einen Wimpernschlag in der Unendlichkeit gedauert. Und schon machen wir durch Gier, Eigennutz und Hass alles wieder zunichte. All das, was uns eigentlich ein bequemeres, weniger arbeitsintensives Leben hätte ermöglichen können.
Noch definieren die Menschen sich durch Arbeit, in 30 oder 50 Jahren wird das nicht mehr möglich sein. Die Digitalisierung wird fortschreiten. Die Industriegesellschaft, wie wir sie jetzt kennen, bröckelt schon. Sie wird aufhören zu existieren. Busfahrer, Bankangestellte und lokale Händler werden nicht mehr benötigt werden. Strichcodes übernehmen die Herrschaft über unser Leben. Der Kühlschrank wird bestellen und Amazon wird per autonomem Paketdienst liefern. Einsortieren muss man die Waren dann vielleicht noch selber. Was die Generation Smartphone dann machen soll, steht in den Sternen. Sie können ja jetzt schon nichts mehr mit sich anfangen. Ihr Gejammer verteilen sie mit Textbildchen millionenfach in den sozialen Netzwerken. 1,2 Milliarden Menschen nutzen Facebook, fast ein Fünftel der gesamten Menschheit hat sich hier versammelt, um dem Rest der Welt mitzuteilen, dass das Leben ungerecht sei. Gestörte oder zerstörte Beziehungen und die Ungerechtigkeit im Allgemeinen werden leidvoll beklagt. Wobei die Ankläger immer im Recht sind, es ist immer die Schuld der Anderen. Selbstreflektion findet nicht statt. Ist auch nicht nötig, die Gemeinde hat immer Mitleid – virtuell zumindest, lebt sie doch im gleichen Jammertal.
Politiker entwickeln keine Pläne, haben keine Utopien, wie eine Veränderung gelingen soll. Zuallererst müssen sie Wahlen gewinnen, ihr Wohlfühlzentrum ist der Machtapparat der Regierung. Das tun sie aber nicht mit Fakten, hier werden nur Parolen angeboten, die dem Volk „nach der Schnauze geredet“ sind. Und wenn hohle Phrasen wie „Freiheit und Sicherheit“ oder „Gerechtigkeit“ postuliert werden, werden die Wohlfühlsynapsen des menschlichen Gehirns angesprochen. Dafür müssen die Politiker nicht einmal erklären, wie sie das erreichen wollen, der Weg dahin bleibt im Ungefähren. Immer. Oder es wird gelogen, auch erlaubt.
Einige Forscher gehen davon aus, dass bis zu 90% der jetzt bestehenden Arbeitsplätze überflüssig werden. Kollege Roboter kann viele Arbeiten fehlerfreier übernehmen. Es werden dann nur noch wenige hochspezialisierte Berufe übrigbleiben.
Möglicherweise hat die derzeitige Hochkonjunktur der Populisten auch damit zu tun, dass unsere Instinkte die Gefahr wittern, ohne sie genau benennen zu können. Kriege rücken uns immer näher auf den Pelz, die „Eliten“ haben sich in ein unangreifbares, eigenes Universum verzogen.
Und unser Gehirn, dem die Logik nicht gegeben ist, muss sich neue Wohlfühlräume suchen. Die „Eliten“ müssten eigentlich umdenken. Das tun sie aber nicht, weil sie ebensolche fehlerhaften Gehirne besitzen. Vielleicht wird so wieder einmal eine Hochkultur erst dahinsiechen und dann verschwinden. Kriege werden um die verbleibenden Ressourcen geführt werden. Und wenn wir dann erkennen, dass man nach der kompletten Ausplünderung der Erde das Geld nicht essen kann, dann ist es eben vorbei. Zerstören und hoffen, dass man die Schäden schon irgendwie reparieren kann, ist die bequemste jetzige Doktrin.
Vor uns sind schon viele Hochkulturen untergegangen. Also, eigentlich nicht schlimm, dann kommt eben etwas Neues – auferstanden aus Ruinen. Aber für die uns mittelbar nachfolgenden Generationen wird es keine Wohlfühlzeit werden.
Wolfgang Claussen