Menschen

Hundejahre – Die Siebziger

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Es waren andere Zeiten. Wir hatten zwei Stammlokale, den Trichter in Niebüll und die Sportklause in der Osterhusumer Straße, dort ist jetzt das griechische Restaurant Korfu. Die Wirtin, ich glaube sie hieß Uschi, hatte hinter dem Haus einen Zwinger, in dem der Boxer „Arko“ sein Dasein fristete. Ein unglaublich großer, breitschultriger Hund, dem das Stachelhalsband in den Hals gewachsen war. Wenn der mal aus seinem Zwinger ausgerückt war, ging in diesem Bereich der Osterhusumer Straße niemand zur Arbeit. Der Hund war sehr aggressiv.

Unsere Wohngemeinschaft war ein paar Häuser weiter. Ein Haus mit sieben Zimmern. Anfangs waren wir zu fünft. Es zogen immer mal wieder andere Leute ein. Einer von ihnen war „Whisky“. Er war bei der Bundeswehr gewesen und ziemlich abgedreht entlassen worden, dem Whisky verfallen. Eines Tages erzählte Uschi, dass sie nachts aufgewacht sei, jaulende und fiepsende Töne hätten sie geweckt.

Als sie nachgeschaute, hockte „Whisky“ mit dem Boxer im Zwinger, spielte Mundharmonika und der Hund jaulte inbrünstig dazu. Mit der Zeit hatte „Arko“ uns in sein Herz geschlossen. Mit unserem Hund „Perro“, einer Boxer-Rottweiler-Mischung, hatte er sich auf Anhieb gut verstanden. „Perro“ war recht gelehrig, er konnte Türen öffnen, auch Kühlschranktüren. So war der Kühlschrank der Sportklause selbstverständlich keine Hürde für ihn. Gemeinsam hatten die beiden Hunde sich über den Würstchenvorrat hergemacht. Uschi war leicht vergrätzt. Ich sehe noch das Bild vor mir, als die Hunde uns mit ihrem „Das waren wir nicht“-Blick anschauten.

Eines Tages stand die Polizei vor der Tür, der Postbote hatte Anzeige erstattet: „Perro“ hatte seine Beinkleider gründlich zerfetzt. Wir waren völlig „überrascht“, der Hund hatte die schwere Haustür geöffnet. Nachdem die Polizisten sich überzeugt hatten, dass er das wirklich konnte, zogen sie wieder ab. „Perros“ Untat hatte keine weiteren Folgen. Auch den Stromableser mochte er nicht. Der war eines Tages ins Haus gekommen, ohne dass ihm jemand geöffnet hatte. Eine Stunde musste er stehend im Flur verbringen. „Perro“ hatte ihn zwar reinkommen lassen, aber nicht wieder raus.

Es war auch die Zeit der „sexuellen Revolution“. Die „68er Bewegung“ sah in der sexuellen Befreiung einen Weg, gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen. Die ursprüngliche Zielsetzung, „die charakterliche Selbststeuerung des Menschen“, wie Wilhelm Reich es gefordert hatte, ist nie verwirklicht worden. Reich prägte den Begriff der sexuellen Revolution. 1945 war sein Buch „The Sexual Revolution“ erschienen, in dem er die bigotte, verlogene Sexualmoral seiner Zeit kritisierte. Er sah in der Triebunterdrückung eine Deformation der Persönlichkeit, mit der Folge, dass Frust und Aggression zur Lust an Herrschaft und Unterwerfung führen würden. Die „68er Bewegung“ sah darin eine der Ursachen für die Gräueltaten während des Dritten Reiches. Andere sahen in der Kleinfamilie die Wiege des Faschismus, die es zu zerschlagen galt. Männer und Frauen lebten in Abhängigkeit voneinander und könnten sich nicht frei zum Menschen entwickeln. Im Februar 1967 entstand folglich die „Kommune I“ in Berlin. Man zog in die leerstehende Wohnung ein, die Hans Magnus Enzensberger gehörte. Dessen geschiedene Ehefrau Dagrun und ihre Tochter Tanaquil waren erste Bewohner der Kommune. Weitere Bewohner waren u.a. Fritz Teufel und Reiner Langhans, die für den weiblichen Andrang auf die Kommune sorgten. Teufel wurde deswegen irgendwann der Kommune verwiesen. Er tauchte dann in München auf und schloss sich später der „Bewegung 2. Juni“ an. 1969 löste die K1 sich auf. Es war der Versuch gewesen, ausschließlich nach dem Lustprinzip zu leben, aber das nur unter den Augen aller. Viele ihrer Aktionen hatten sie zum Vorbild der „Sponti-Bewegung“ gemacht. Ein geplantes Puddingattentat auf den US-Vizepräsidenten oder hunderte Mao-Bibeln, die sie von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche geworfen hatten, fast keine Woche blieb ohne eine Aktion.

Die Anti-Baby-Pille war der eigentliche, verändernde Faktor. Weniger Angst vor ungewollter Schwangerschaft oder vor Alimentenzahlungen. Kostenloser und unverbindlicher Sex war die einzige, wirkliche Veränderung. Die Prostitution verzeichnete einen Rückgang der Huren und ein Preisverfall im Gewerbe. Für die Medien war es das Thema der Zeit, sie vermarkteten aber nur das Thema Sex. An den Geschlechterrollen änderte sich so gut wie nichts.

So war es denn auch selbstverständlich, dass ich im Bett ein Stück zur Seite rückte, als mich nachts jemand anstupste und zu mir ins Bett kroch. Als ich rüberlangte, fühlte es sich irgendwie fellig an. „Arko“ war wieder einmal aus seinem Zwinger entwischt, durch das offene Fenster reingekommen und wollte sein Nachtlager lieber mit mir teilen.

Mit der Zeit wurde unsere Wohngemeinschaft bekannter. Die Husumer Nachrichten widmeten uns eine ganze Seite. Der damalige Leiter des Jugendamts, Dahlhoff, profilierte sich darin als jemand, der in aller Stille ein Drogenprojekt aufgezogen haben wollte. Drogen spielten bei den meisten von uns aber keine große Rolle. Da uns aus der Husumer Kneipenszene immer wieder Leute geschickt worden waren, die einen Schlafplatz suchten, kamen auch Jugendliche zu uns, die irgendwo abgehauen waren. Mit Hilfe des Husumer Jugendamtes konnten wir einigen helfen. Das war’s aber auch schon mit dem Jugendamt.

Andere wollten bei uns einmal reinschauen, so auch Gertrud L. Sie bot uns an, unsere Küche sauberzumachen. Wir waren einverstanden, ließen einige Tage das Geschirr stehen. Als sie kam und anfing die Küche zu putzen, sind wir in die Stadt gegangen. Nach unserer Rückkehr war die Küche poliert, die Dame aber nicht mehr anwesend. Was sie ja nicht wissen konnte, wir hatten Pläne für den Küchendienst. Sie war davon ausgegangen, dass so eine Wohngemeinschaft sicher kein reinlicher Ort sein könnte. Wir wollten, dass sie Recht behalten konnte.

Auch die missionierenden Christen sahen in uns ein lohnenswertes Ziel. Immer wieder bekamen wir Besuch von Bruder Heinrich und Bruder Ekhard. Sie wollten den Versuch machen, uns von unserem unchristlichen Weg abzubringen. Diese Art des Zusammenlebens würde uns ins Verderben führen. Bruder Heinrich brachte dazu immer eine Kanne Milch mit. Deren Gedankengänge waren nicht ganz von der Hand zu weisen. Schließlich hatten wir, weil immer wieder Leute ums Haus schlichen, um herauszufinden, welch schändliches Treiben sich in so einer Kommune ereignen würde, einen Plan ins Fenster gehängt, wann wer angeblich mit wem Sex hatte. Freitags stand Gruppensex auf dem Plan. Es war zwar die Zeit der sexuellen Revolution, die war aber bei uns in der Provinz noch nicht angekommen, obwohl wir natürlich von ihr wussten, wie unsere Nachbarn auch.

Sicher ist auch einiges daneben gegangen. Eines Tages stand wieder einmal die Polizei vor der Tür. Einer unserer Mitbewohner hatte sich einen Revolver organisiert. Dann hatte er einen Nachtschrank auf die Fensterbank gestellt, eine Zielscheibe drauf gemalt – und vorbei geschossen. Die Kugel landete im Wohnzimmerschrank des Nachbarhauses. Zum Glück war niemand zu Schaden gekommen. Er verließ uns kurz darauf.

Mit der Zeit entspannte sich das Verhältnis zu den Nachbarn, sie kamen gerne vorbei, wenn wir Musiksessions im Garten veranstalteten. Besonders, wenn Hannes Wader wieder einmal reingeschaut hatte und seine „Stücke“ vortrug.

Wader war bei uns aufgetaucht, weil er auf der Suche nach Knut Kiesewetter war. Er war ein drastischer Typ. Ich erinnere mich, wie wir in der Blockhütte saßen, ein Typ irgendetwas von Langhaarigen von sich gab und Hannes Wader ihn mit einem „Du bist ein Arrrschloch“ abfertigte. Wir haben ihn dann zu Kiesewetter in den Bohmstedter Haacks gefahren. Auch später waren wir des Öfteren dort, hier wurde viel Musik gemacht. Besonders erinnere ich mich an Konstantin Wecker, der beim Singen immer so spuckte. 

Wolfgang Claussen